Psychopharmaka: Nebenwirkung Gewichtszunahme

Für die von Patienten und Ärzten zu Recht gefürchtete Nebenwirkung der meisten Psychopharmaka gibt es einen Fachbegriff: Psychopharmaka-assoziierte Gewichtszunahme, auch PAGZ genannt.

von Dr. Ute Koch
30.04.2024

05pta_istockphoto_1635340404_Inhalt
© Foto: [M] Dacharlie / Getty Images / iStock (Symbolbild mit Fotomodell)
Anzeige
  • PAGZ steht für Psychopharmaka-assoziierte Gewichtszunahme.
  • Die PAGZ ist eine Nebenwirkung vieler Psychopharmaka, allen voran vieler Antidepressiva.
  • Die Mechanismen, die zu einer PAGZ führen können, sind vielfältig.
  • Die PAGZ gefährdet die Compliance und birgt zudem das Risiko ernster gesundheitlicher Folgen des erhöhten Körpergewichts.
  • Eine professionelle Beratung zu kalorienbewusster Ernährung und körperlichen Aktivitäten kann einer PAGZ entgegenwirken. Idealerweise erfolgt die Beratung und Lebensstiländerung zu Therapiebeginn.

Die Zunahme des Körpergewichts ist eine Begleiterscheinung fast aller Psychopharmaka. Wie ausgeprägt diese erfolgt, hängt vom jeweiligen Arzneistoff ab, aber auch vom Lebensstil des Patienten und von dessen individuellen Risikofaktoren. Beispiele für letztere sind jüngeres Lebensalter, eine Diagnose aus dem schizophrenen Formenkreis, ein niedriger Body-Mass-Index (BMI) unmittelbar vor Therapiebeginn und bestimmte genetische Voraussetzungen.

Aktueller Podcast

Eine PAGZ birgt mehrere ernste Gefahren: eine schlechte Therapietreue assoziiert mit ausbleibendem Therapieerfolg, eine geminderte Lebensqualität und das Risiko für Folgeerkrankungen (z. B. Diabetes mellitus, Herz-Kreislauf-Erkrankungen). Zudem fällt es psychiatrischen Patienten schwerer als der Allgemeinbevölkerung, einmal zugenommenes Gewicht wieder abzubauen. So gibt es verschiedene Gründe, weshalb Patienten mit einem PAGZ-Risiko beziehungsweise mit einer bereits eingetretenen PAGZ nicht alleingelassen werden dürfen. In jedem Fall fehl am Platz ist eine Stigmatisierung der Betroffenen.

Negative Spitzenreiter

Unter den Psychopharmaka gibt es drei Indikationsgruppen, deren Vertreter besonders häufig und ausgeprägt das Körpergewicht ansteigen lassen. Hierzu gehören Antidepressiva, vor allem die älteren trizyklischen Antidepressiva (TZA, s. Tab. S. 43), die als Wiederaufnahmehemmer von Serotonin und Noradrenalin agieren. Auch selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer sind dabei, das atypische Antidepressivum Mirtazapin und der Monoaminooxidasehemmer Tranylcypromin. Nennenswert sind zudem die stimmungsstabilisierenden Medikamente (Phasenprophylaktika) Lithium und Valproat, die unter anderem bei bipolaren Erkrankungen (sich abwechselnde manische und depressive Phasen) zum Einsatz kommen. Ebenso die Antipsychotika Clozapin und Olanzapin, deren Hauptindikation die Schizophrenie ist.

Gewichtsmonitoring

Großes Augenmerk gilt der Gewichtsentwicklung zu Therapiebeginn. Nimmt ein Patient schon in den ersten Wochen erheblich zu, besteht eine ungünstige Prognose hinsichtlich einer weiteren Gewichtszunahme. Daher werden Ärzte dazu angehalten, frühzeitig Gegenmaßnahmen zu ergreifen, an erster Stelle in Form einer professionellen Lebensstil-beratung. Deren Inhalte sind bekannte Maßnahmen wie eine kalorienbewusste Ernährungsweise und regelmäßige körperliche Aktivitäten. Für letztere ist sogar nachgewiesen, dass sie bei Depressionen und Schizophrenie die psychiatrische Symptomatik bessern können. So trägt selbst ein täglicher kleiner Abendspaziergang zum Therapieerfolg bei.

Hinsichtlich der Lebensstiländerungen kann und sollte das Apothekenteam aktiv werden und die ärztlichen Empfehlungen mit sinnvollen Ratschlägen unterstützen. Sind Lebensstiländerungen zur Gewichtskontrolle nicht möglich oder führen diese nicht zum gewünschten Erfolg, kann der Arzt den Wechsel zu einem für das Körpergewicht günstigeren Psychopharmakon in Betracht ziehen, sofern diese Option therapeutisch zielführend ist. Als Ultima Ratio kann er zusätzlich zur Psychotherapie ein gewichts- reduzierendes Medikament (z. B. Metformin) verordnen.

Mechanismen der PAGZ

Die Mechanismen, die das Körpergewicht ansteigen lassen, sind vielfältig. Häufig spielen mehrere davon eine Rolle. Effekte im zentralen Nervensystem (ZNS) sind beispielsweise ein vermindertes Sättigungsgefühl und ein gesteigerter Heißhunger, den Patienten häufig mit besonders hochkalorischen und/ oder industriell stark verarbeiteten Nahrungsmitteln stillen. Zu den peripheren Effekten gehören unter anderem eine Bauchfett-Akkumulation und der Einfluss auf die Insulinsekretion. Auch der therapeutisch genutzte Angriff am Histamin- und/oder Serotoninrezeptor führt bei den meisten der betreffenden Substanzen zur Gewichtszunahme.

Antidepressiva mit hohem PAGZ-Risiko*

Trizyklische Antidepressiva (TZA)

Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI)

Amitriptylin**

Citalopram**

Nortriptylin**

Escitalopram

Doxepin

Fluvoxamin

Clomipramin

Imipramin

Desipramin

* beispielhafte Nennungen ohne Anspruch auf Vollständigkeit
**besonders hohes PAGZ-Risiko

Frau fasst sich an den Hals.


© Foto: nortonrsx / Getty Images / iStock (Symbolbild mit Fotomodell)

Anticholinerge Nebenwirkungen führen oft zu Mundtrockenheit. Dagegen können PTA zum Beispiel zahnfreundliche Bonbons oder Pastillen zum Lutschen empfehlen.

Antihistaminerge Nebenwirkungen

Histamin hat im Organismus unterschiedliche Funktionen. Diese vermittelt es an verschiedene Organsystemen über vier Rezeptortypen entweder als Gewebshormon oder als Neurotransmitter. Im zentralen Nervensystem (ZNS) ist Histamin als Neurotransmitter aktiv. Es besetzt den zentralen Histaminrezeptor, wodurch es unter anderem bei der Regulation des Wachzustandes und des Appetits eine Schlüsselrolle spielt. Hat ein Psychopharmakon eine hohe Affinität zum zentralen Histaminrezeptor, behindert es das Andocken des Histamins. Die Folgen sind sedierende und appetitsteigernde Wirkungen.

Beide Nebenwirkungen können erwünscht oder unerwünscht sein. Beispielsweise ist ein Antidepressivum mit sedierender Komponente indiziert, wenn eine Depression mit ängstlichen Verstimmungen, Tagesnervosität und Schlafstörungen einhergeht. Hingegen sind sedierende Effekte ein Nachteil für die Fahrtauglichkeit und Arbeitsfähigkeit. Eine PAGZ kann im Einzelfall therapeutisch sinnvoll sein. Zum Beispiel, wenn ein Patient stark abgemagert ist aufgrund seiner psychischen und/oder anderen chronischen Erkrankung.

Zwischen sedierenden Effekten und Gewichtszunahme besteht zudem ein unerwünschter Zusammenhang: Die sedierende Wirkung mindert das Verlangen nach körperlichen Aktivitäten, was sich ungünstig auf die Energiebilanz auswirkt.

Anticholinerge Nebenwirkungen

Haben Psychopharmaka anticholinerge Effekte, können sie mehr oder weniger stark den Speichelfluss (und auch den Tränenfluss) reduzieren und die Mundschleimhaut trocken werden lassen. Besonders nennenswert sind trizyklische Antidepressiva . Patienten mit Mundtrockenheit trinken viel, um ihre Mundschleimhaut zu befeuchten. Da vielen von ihnen der Energiegehalt gesüßter Durstlöscher nicht bewusst ist, sollten sie entsprechend aufgeklärt werden. Kalorienfrei sind Wasser, ungesüßte Tees (heiß oder kalt) und ungesüßter Kaffee. Wer den Speichelfluss durch Lutschen von Bonbons oder Pastillen anregt, sollte zahnfreundliche Produkte wählen, erkennbar am Zahnmännchen-Logo. Diese mindern das bei Mundtrockenheit erhöhte Kariesrisiko und sind zugleich kalorienarm.

Kalorienbewusst leben

Bekanntlich können schon kleine Veränderungen der Ernährungsweise den täglichen Kalorienverbrauch merklich reduzieren. Alles, was sich in dieser Hinsicht auf Dauer summiert, kann Patienten helfen (wie auch anderen übergewichtigen Menschen), die Gewichtszunahme aufzuhalten oder ein Zuviel an Gewicht zu verlieren. Kalorienbomben sind zu meiden, etwa gebra- tene oder frittierte Speisen, fettreiche Milchprodukte und verarbeitetes Fleisch (z. B. Wurst). Auch kohlenhydrat- und salzreiche Fertigprodukte sollten tabu sein, allen voran die Tiefkühlpizza. Stattdessen ist der tägliche Speiseplan mit viel Gemüse, zuckerarmem Obst (z. B. Erd-, Him- und Brombeeren, Wassermelone) und ballaststoffreichen Produkten zu füllen. Bei der Getränkewahl sind die genannten Beispiele zu berücksichtigen.

Kommentar schreiben

Die Meinung und Diskussion unserer Nutzer ist ausdrücklich erwünscht. Bitte achten Sie im Sinne einer angenehmen Kommunikation auf unsere Netiquette. Vielen Dank!

Pflichtfeld *
Inhaltsverzeichnis