Adipositas ist keine Charakterschwäche

(kib) „Die bisherigen Vorstellungen zur Entstehung der Adipositas und zu den Therapiemöglichkeiten für adipöse Menschen sind falsch.“ Das sagten Experten auf der 6. Deutschen Hormonwoche der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie (DGE).

07.10.2021

Übergewichtiger Junge hat die Wahl zwischen Bürger und Obst und Gemüse
© Foto: yacobchuk / Getty Images / iStock (Symbolbild mit Fotomodell)
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Die wissenschaftlichen Erkenntnisse der vergangenen Jahrzehnte hätten gezeigt, dass die extreme Adipositas, die im frühen Lebensalter auftritt, kein Verschulden der Eltern oder des Kindes oder gar ein selbstgewählter Zustand sei, sondern das Ergebnis einer Fehlregulation des Hungers, so Professor Martin Wabitsch, Pädiater am Universitätsklinikum Ulm bei einer Pressekonferenz der DGE.

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Das zentral und unbewusst gesteuerte homöostatische System registriert den Ernährungszustand und reguliert die Nährstoffaufnahme. Fehler im Leptin-Stoffwechsel oder ein Mangel des „Hungerhormons“ Leptin können zu falschen Informationen des Gehirns über den tatsächlichen Ernährungszustand des Körpers führen.

Aus noch nicht vollständig verstandenen Gründen liegt bei adipösen Kindern oft eine Leptinresistenz im Gehirn vor. Es resultiert die ständige Suche nach Nahrung bei zugleich heruntergefahrenem Energieumsatz, verlangsamtem Höhenwachstum und spontaner Meidung körperlicher Bewegung.

Reize aus der Umgebung, in Deutschland gekennzeichnet durch ein Überangebot an Nahrungsmitteln, tun ein Übriges. Weil das kognitiv-emotionale System dem starken Einfluss der homöostatischen Regelkreise unterliege, führe das dazu, erklärte Wabitsch, dass das Körpergewicht insgesamt sehr stabil gehalten wird und willentlich nur geringfügig verändert werden könne. Das erklärt die Misserfolge von Therapieversuchen, die allein auf Ernährungs- und Bewegungsprogrammen beruhen.

Chronische Krankheit

Adipositas wird heute als chronische Erkrankung aufgefasst, die einer lebenslangen Behandlung bedarf. Große Hoffnungen setzen Endokrinologen auf Inkretinmimetika wie die GLP-1-Rezeptoragonisten. Diese hätten sich in Studien als hoch effektiv erwiesen bei guter Langzeitverträglichkeit, sagte Professor Jochen Seufert vom Universitätsklinikum Freiburg.

So ist Liraglutid ab einem Alter von 12 Jahren zur Gewichtsregulierung zugelassen. In naher Zukunft erwartet werden weitere Zulassungen, zum Beispiel von Semaglutid als einmal wöchentliche Spritze oder in oraler Formulierung sowie von Inkretin-Koagonisten, die mehrere Inkretinhormon-Rezeptoren ansprechen.

Die pharmakologische Therapie soll immer eingebettet werden in ein multimodales Behandlungsprogramm, wie es mit dem Disease Management Programm Adipositas implementiert werden soll, empfehlen die Experten

Bei Erwachsenen befürworten die Endokrinologen den häufigeren Einsatz bariatrisch-chirurgischer Interventionen gemäß der S3-Leitlinie und nicht erst bei extremer Adipositas. Die Evidenz für die Langzeiteffekte sei für die bariatrische Chirurgie derzeit besser als für die pharmakologisch unterstützte Therapie, sagte Seufert. Er erwartet allerdings, dass die konservative Therapie in den Vordergrund rücken wird, sobald neue Wirkstoffe zur Verfügung stehen.

Auf alle Fälle gelte es, die Stigmatisierung und Diskriminierung adipöser Menschen zu beenden, fordern die Endokrinologen.

Quelle: Ärzte Zeitung

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