Der Trend zum Ernährungshypochonder

(kib) In dem Verzicht auf Gluten, Laktose und Zucker wegen angeblicher „Allergien“ sehen Forscher das Phänomen einer Wohlstandsgesellschaft. Stellt sich die Frage: Sind Ernährungshypochonder reine Selbstdarsteller?

03.07.2017

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© Foto: Tijana / stock.adobe.com
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"Die Tendenz, Ernährung zu problematisieren, ist in den vergangenen Jahren eindeutig stärker geworden", sagt Jana Rückert-John, Professorin für "Soziologie des Essens" an der Hochschule Fulda. "Es gibt echte Lebensmittelallergien und Unverträglichkeiten. Aber es gibt auch einen rapiden Anstieg der gefühlten oder der behaupteten."

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Ernährungswissenschaftler und Buchautor Uwe Knop hat für Menschen, die der neuen Entwicklung folgen, einen wenig schmeichelhaften Namen: Ernährungshypochonder. Für ihn zählt dazu, wer ohne ärztliche Diagnose bestimmte Lebensmittel meidet. "Manchmal habe ich den Eindruck, Zucker ist das neue Heroin", ergänzt er spitz.

Valide Zahlen zu dem neuen Trend gebe es nicht. Ein Blick auf die Auswahl glutenfreier Produkte im Supermarkt und auf die wachsenden Marktanteile von Produzenten aber lässt eine Art plötzliche Massenepidemie vermuten. "Für mich als Soziologin ist es interessant, wenn Menschen sich so beschreiben – ob sie das nun haben oder nicht", sagt Jana Rückert-John. "Es macht ganz offensichtlich etwas mit ihnen, und es geht um die Gründe dieser Selbstbeschreibung."

Ernährungswissenschaftler Knop vermutet eine Mischung aus Profilierung und Selbstdarstellung. Und damit eine ähnliche "Ich-Inszenierung" wie sie Wissenschaftler bereits beim Veganer-Hype beobachteten: Verzicht und Abgrenzung, um interessant zu bleiben.

Für John hat die neue Mode soziale Effekte. "Man findet damit Anschluss und Verbündete. Wer keine Allergie oder keine Unverträglichkeit hat, der ist heute ja fast schon irgendwie langweilig", sagt sie.

Und Knop sagt zu den vielen "frei von ... Angeboten": "Das sind Phänomene einer übersättigten Wohlstandsgesellschaft, die sich die Pathologisierung von Grundnahrungsmitteln wie Milch und Getreideprodukten leisten kann", sagt Uwe Knop dazu. Für den Handel aber sei es ein gutes Geschäft. "Glutenfreie Nudeln kosten 1,55 Euro, normale Nudeln 49 Cent."

Knop sieht im angesagten Lebensmittel-Verzicht – und dem Spott darüber – aber ein ganz neues Problem. "Die echten Allergiker leiden darunter, dass viele ihr Problem nicht mehr ernst nehmen. Das ist wie eine Desensibilierung der Gesellschaft." 

Quelle: Ärzte Zeitung

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