Trend Eisbaden: Bei 2,1 Grad in den Bach

(kib) Beim Eisbaden setzt der Fluchtreflex innerhalb weniger Sekunden ein. Dann heißt es: Durchhalten. Ein Eisbader berichtet von seinen Erfahrungen – und ein Rheumatologe von der Kältetherapie in der Klinik.

von Andrea Schudok
29.03.2022

 
Zwei Männer baden im Eisbach
© Foto: Irina Hey
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Für einen Moment bleibt Robert Weise die Luft weg. Es ist Sonntag, 10.21 Uhr. Eben atmete er ein und aus – jetzt spürt er nur noch den Schmerz. Weise steht bis zur Brust im Eisbach und streckt die Hände in die Luft.

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Es fühlt sich an, als würden 1000 kleine Nadeln in die Haut stechen, schildert er – und lächelt. Ganz bewusst stemmt er sich gegen seinen Fluchtreflex, während die Kälte durch seinen Körper kriecht und alles Blut vor sich hertreibt: raus aus den Zehen, raus aus den Waden, hoch zum Rumpf. Sein Körper schreit Alarm, doch er bleibt still. Seine Smartwatch zeigt 5:34 Minuten, als er anfängt zu schwimmen.

Erste Erfahrungen mit dem Eiswasser sammelte der Fitnesstrainer und Personalcoach im Herbst 2017 – mittlerweile geht er zweimal wöchentlich Eisbaden. Der Auslöser war seine Rheumadiagnose. Er wollte seine Symptome lindern.

Auch Professor Herbert Kellner, Facharzt für Innere Medizin, Rheumatologe und Gastroenterologe aus München weiß um die Vorteile der Kältetherapie. „Ausgeprägte Kälte ist eine Form von Schmerzreiz. Da der Mensch nur eine bestimmte Menge an Schmerzreizen verarbeiten kann, können durch die Kältetherapie rheumatischbedingte Schmerzen blockiert werden.“

Doch er betont auch, dass Kältetherapie nur einer von vielen Ansatzpunkten ist und die medikamentöse leitliniengerechte Therapie im Fokus steht. Außerdem sei der Kälteschock nicht für alle Patienten geeignet, sagt Kellner und macht auf die Kontraindikationen aufmerksam – zum Beispiel eine periphere Durchblutungsstörung, Pneumonie oder ein kürzlicher Herzinfarkt. Seine Patienten mit rheumatoider Arthritis und ohne Kontraindikation weißt er jedoch auf die Kryotherapie hin – als Teil des gesamten Behandlungsplans.

„Gehe niemals alleine“

Auch Eisbader Weise sagt „Gehe niemals allein“, es kann immer etwas passieren. Vor der Corona-Pandemie hatten sich die „Munich Hot Springs“ zu zehnt oder fünfzehnt getroffen. Heute sind sie zu dritt. Gekleidet in Sporthose und Winterjacke, eine Mütze auf dem Kopf, stehen sie um 10.01 Uhr auf der Eisbachbrücke.

Das Wasser des Eisbachs hat 3,8 Grad, die Außentemperatur liegt bei 2,1 Grad. Die drei Eisbader laufen gen Norden, lassen sich nach wenigen Schritten auf dem ruhenden Gras nieder und bereiten sich auf den Kälteschock vor. Die Arme über die Beine geschlagen, das Smartphone in der Hand, hält die eine Eisbaderin für 60 Sekunden den Atem an. Ein anderer sitzt im Schneidersitz, gerader Rücken, geschlossene Lider, kräftiger und gleichmäßiger Atem. Durch die Nase ein, durch den Mund aus. Neben ihnen Weise, stehend und auf seinen Atem konzentriert. Für einen kurzen Moment scheint es, als würden sie meditieren.

„Wollen wir?“ In wenigen Sekunden ziehen sich alle drei die warmen Klamotten aus und gehen zum Ufer. Es fällt steil ab, die Möglichkeit Stück für Stück ins Wasser hinein zu laufen gibt es nicht. Nacheinander steigen sie in den Eisbach. Zunächst reicht ihnen das Wasser bis zum Bauchnabel. Zwei Atemzüge später bis zum Hals. Mit eingeknickten Beinen halten sie es aus – die Kälte, das Bitzeln, den Schmerz. „Die ersten zwei Minuten sind die schlimmsten“, sagt Weise. Es ist wichtig, Ruhe zu bewahren, die Nadelstiche auf der Haut fühle jeder, egal wie lange er bereits eisbade. Das sei besonders für Anfänger wichtig. Wer weiß, was auf ihn zukommt, käme damit besser zurecht.

Eisbaden ist kein Wettkampf, betonen die Münchner. Sie wollen ihre persönlichen Grenzen erfahren und den Kopf freikriegen – an wunderschönen Orten die Natur genießen.

Die ersten zwei Minuten sind vorbei: Die verbissenen Blicke weichen einem Lächeln, der Schmerz dem Stolz, einer der Eisbader fängt an zu pfeifen. Unter den neugierigen Blicken einer Passantin schwimmen sie ein Stück den Fluss hinauf. Früher seien viele Schaulustige da gewesen, seit der Corona-Pandemie liege das Eisbaden im Trend und die Münchner hätten sich an die mutigen Schwimmer gewöhnt.

In die Kammer, statt in den Bach

Auch Rheumatologe Kellner kennt das Hobby seit vielen Jahren. Selbst Eisbaden war er noch nie, dafür aber in der Kältekammer der Rheumatagklinik am Krankenhaus Neuwittelsbach München. Überweist er seine Patienten dorthin, können diese bei teilstationärem Aufenthalt zweimal täglich in die Kammer gehen. Als ambulante Einzelleistung würden die Kosten für die Ganzkörper-Kältetherapie von der gesetzlichen Krankenversicherung nur auf Antrag und im Einzelfall erstattet „Einige Patienten haben die Therapie hoffnungsvoll angefangen und mussten sie wegen der Kosten wieder abbrechen“, sagt er.

Die Eisbader trocknen sich die gerötete Haut ab – Weise wickelt sich in seinen Bademantel. Sie zittern. Um eine Unterkühlung zu vermeiden, ziehen sie sich rasch an. Das Gefühl von Stoff auf der Haut ist sonderbar, sie spüren ihn kaum, so taub ist ihre Körperoberfläche. In wenigen Minuten würden sie sich aufgewärmt haben und mit Energie in den Tag starten.

Es ist Sonntag, 10.43 Uhr. Robert Weise atmet ein und aus – ihm ist kalt, doch er spürt keinen Schmerz mehr. Er steigt ins Auto und schaltet die Sitzheizung an.

Quelle: Ärzte Zeitung

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