Was ist das Jerusalem-Syndrom?

Wenn in der israelischen Hauptstadt Touristen für einige Tage „zu Heiligen werden“, sind sie wahrscheinlich vom Jerusalem-Syndrom betroffen. Ein Einblick, was hinter diesem Phänomen steckt.

von Andrea Schudok
20.04.2023

weiß gewandete Frau umgeben von Polizisten in Jerusalem
© Foto: mauritius images / PhotoStock-Israel / Alamy (Symbolbild mit Fotomodell)
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Am vierten Tag der Pilgerreise nach Jerusalem entfernte sich der 26-jährige Amerikaner von seiner Reisegruppe. Gekleidet in weiße, wallende Gewänder stellte er sich mit einem Stab auf den Ölberg – schweigend und starr, der Sonne entgegenblickend. Nach einigen Stunden kollabierte er – dehydriert, mit Hitzschlag und prärenalem Nierenversagen. Er wurde stabilisiert, dann in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Dort gab er an, Johannes der Täufer zu sein und auf die Ankunft des Erlösers gewartet zu haben.

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Dieses Fallbeispiel schildert Professor Frank-Gerald B. Pajonk, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Ärztlicher Direktor des Zentrums Isartal am Kloster Schäftlarn, in seinem Beitrag „Das Jerusalem-Syndrom“. Das Jerusalem-Syndrom ist ein multifaktorielles psychisches Syndrom, bei dem Betroffene während einer Reise in die gleichnamige israelische Stadt Wahnvorstellungen bekommen und verhaltensauffällig werden, zum Beispiel, weil sie sich mit Personen des alten oder neuen Testaments identifizieren.

Begriff wurde vor über 40 Jahren geprägt

Die Bezeichnung für dieses fast theatralisch wirkende Syndrom geht auf Dr. Yair Bar-El, einen israelischen Arzt, zurück. Als ehemaliger Leiter der psychiatrischen Klinik „Kfar Shaul“ in Jerusalem behandelte er seit den späten 1980er-Jahren Betroffene direkt am Ort des Geschehens. Dieser Ort – Jerusalem – sei für viele Besucher ein Ort des Heiligen, des Historischen und Himmlischen, schreibt Bar-El im Jahr 2000. An diesem Zentrum dreier großer Weltregionen kommt es immer wieder zu Spannungen zwischen den Völkern und Kulturen. Dass sich gerade in Jerusalem Wahn und Wirklichkeit schneller vermischen kann als anderswo, scheint nachvollziehbar.

Die Zahl der diagnostizierten Fälle erreicht in den Jahren vor der Jahrtausendwende einen Höhepunkt. Jährlich seien etwa 100 Personen mit Symptomen des Jerusalem-Syndroms in die Klinik „Kfar Shaul“ überwiesen worden, schreibt Bar-El.

Mittlerweile gebe es das Syndrom aber immer seltener und seit 2019 sei keine einzige Person mit entsprechenden Symptomen in der Klinik vorstellig geworden, erzählt der Psychiater und heutige Klinikleiter, Dr. Gregory Katz, im Jahr 2020 in einem Interview mit dem Deutschlandfunk (DLF). Ein Grund dafür könne sein, dass sich heute mehr Jerusalem-Besucher vorab ausgiebig über die Stadt informierten und so seltener einen Kulturschock erfahren.

Verlässliche Zahlen zur Prävalenz gibt es nicht

Gibt es das Jerusalem-Syndrom also gar nicht mehr? Nein, betont Katz im DLF-Interview, er treffe Betroffene nur nicht mehr. „Sie werden meist von den christlichen Gemeinden, den Pfarrern betreut.“ Verlässliche Zahlen zur Prävalenz des Syndroms gebe es also weiterhin nicht.

Letztlich kann das Jerusalem-Syndrom jeden treffen. Es gibt jedoch einige Risikogruppen, wie emotional labile oder protestantisch erzogene Personen, schreibt Bar-El. Für ihn lassen sich Betroffene in drei Subtypen gliedern:

  • Psychiatrische Vorerkrankung: Wer psychische Vorerkrankungen (etwa Schizophrenien oder Neurosen) hat und nach Jerusalem reist, kann eine psychotische Dekompensation erleben. Das bedeutet zum Beispiel, dass sie oder er sich plötzlich als eine der biblischen Personen wahrnimmt. Andere psychisch Vorerkrankte kommen mit einer fixen Idee ins Heilige Land, – wie der Aufgabe, Heiligtümer anderer Religionen zu zerstören. Wieder andere erhoffen sich durch den Aufenthalt an heiligen Orten eine Art magische Heilung. Manche von ihnen kommen immer wieder nach Jerusalem.
  • Ohne diagnostizierte psychische Erkrankung, aber psychisch auffällig: Seit Jahren lassen sich religiöse Gruppen in Jerusalem nieder, um die Auferstehung Jesus zu bewirken. Meist gefährden sie keine anderen Menschen und verstoßen auch nicht gegen das Gesetz. Daher werden sie oft nicht in der „Kfar Shaul“-Klinik vorstellig. Trotzdem schätzt Bar-El, dass dieser Subtyp einen großen Teil der vom Jerusalem-Syndrom Betroffenen ausmacht. Personen ohne psychische Vorerkrankung, die aber bereits vor ihrer Reise psychisch auffällig waren, können ihrer Obsession aber auch alleine, unabhängig von einer Gruppe nachgehen.
  • Psychisch gesund: Ihre Symptome treten plötzlich und unerwartet auf, meist wenige Tage nach Ankunft. Die Reisenden bestehen darauf, heilige Stätten alleine zu besuchen. Sie sind angespannt, unruhig. Einige haben ein großes Bedürfnis nach innerer Reinheit – sie gehen teilweise zwanghaften Waschritualen nach. Manche basteln sich aus der Hotelbettwäsche togaähnliche Gewänder, rufen Psalmen, halten verworrene Predigten ab.

Der dritte Subtyp, die „reine Form“, ist selten: Nur rund 20 Prozent der vom Jerusalem-Syndrom betroffenen Personen entfallen auf den Subtyp, schätzt Bar-El. Betroffene haben häufig eine bibeltreue Einstellung, sind zum Beispiel in einer streng christlichen Familie aufgewachsen aber eigentlich psychisch gesund.

Doch was triggert ihre Symptome dann? Womöglich weicht ihre Vorstellung der Stadt stark von dem Erleben vor Ort ab. Ihr Verhalten kann als Brücke zwischen ihrem idealistischen Bild und der Realität verstanden werden, vermutet Bar-El.

Nach einer Woche ist der „Spuk“ meistens vorbei

Was auch fasziniert: So schnell die Symptome bei der „reinen Form“ eintreten, lassen sie meist auch wieder nach: Nach etwa fünf bis sieben Tagen ist der „Spuk“ vorbei. Betroffene erinnern sich dann weiterhin an ihr Verhalten in Jerusalem, sind aber oft peinlich berührt und vermeiden, über den Vorfall zu sprechen, so Bar-El. Eine Therapie gibt es nicht. Meist hilft es, wenn Betroffene sich von den Einflüssen Jerusalems entfernen, Kontakt zu Freunden und Familien in der Heimat aufnehmen. Ärzte können ihnen außerdem leichte Sedativa verabreichen oder sie psychotherapeutisch beraten.

Paris- oder Venedig-Syndrom

Phänomene, die dem Jerusalem-Syndrom ähneln, treten auch in anderen Regionen mit großer religiöser Bedeutung auf, zum Beispiel in der Stadt Mekka, im Vatikan oder an heiligen Orten Indiens, berichtet Professor Frank-Gerald B. Pajonk vom Zentrum Isartal am Kloster Schäftlarn in Bayern. Zudem gibt es weitere ortsspezifische psychische Störungen. Einige Beispiele:

Paris-Syndrom: Wenn jemand – meist nach jahrelangem Sparen – an seinen Sehnsuchtsort Paris reist und von der Realität enttäuscht wird, besteht die Gefahr des Paris-Syndroms. Der japanische Psychiater Professor Hiroaki Ota wurde Ende der 1980er-Jahre auf das Phänomen aufmerksam, das seiner Aussage nach häufig bei Touristen aus Japan auftritt. Betroffene hätten zunächst leichte Angstgefühle, die sich bis zum Verfolgungswahn steigern könnten, schreibt er in seinem Buch „Pari shôkôgun“ (Paris-Syndrom).

Stendhal-Syndrom: Krank durch Kunst? Besucher der Stadt Florenz können wohl beim Anblick all der bedeutsamen Gemälde, Skulpturen und Architektur eine kulturelle Reizüberflutung erleben. Der Begriff Stendhal-Syndrom geht auf eine Notiz aus der Reiseskizze „Reise in Italien“ (1817), des französischen Schriftstellers Marie-Henri Beyle, bekannt unter dem Pseudonym Stendhal, zurück. Darin beschrieb er, dass er sich schon bei der Ankunft in Florenz wie in einem Wahn fühlte und keinen klaren Gedanken fassen konnte.

Venedig-Syndrom: Den Tod in Venedig, wie ihn bereits Thomas Mann 1911 in seiner gleichnamigen Novelle beschrieb, nehmen sich – leider – einige wenige Venedig-Besucher zur Aufgabe und begehen in der Lagunenstadt Selbstmord.

Quelle: Ärzte Zeitung

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