Was ist eigentlich Prosopagnosie?

Wer Probleme hat, Gesichter wiederzuerkennen und zuzuordnen, könnte von Prosopagnosie betroffen sein. Manchmal führt die Gesichtserkennungsstörung so weit, dass Eltern ihre Kinder auf Fotos nicht identifizieren können.

von Andrea Schudok
05.05.2023

Frau mit Teller vor dem Gesicht
© Foto: Ute Grabowsky / photothek / picture alliance
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"Meine Kinder haben auch solche T-Shirts“, denkt Sabine (Name geändert), während eine Fotografin die Bilder vom letzten Schulfest in die Höhe hält. Wer sich oder seine Kinder auf den Fotos wiedererkennt, soll sich melden und bekommt das Bild. Sabine blickt einige Sekunden lang auf die ihr vertrauten T-Shirts auf dem hochgehaltenen Foto. Niemand meldet sich, um das Foto in Empfang zu nehmen, stattdessen schauen alle Eltern sie an. „Sabine, möchtest du das Bild von deinen Kindern nicht haben?“

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Diese Situation schildert Dr. Martina Grüter in ihrem Beitrag „Wenn man Gesichter schlecht erkennt“, in dem es um Prosopagnosie geht – die Unfähigkeit, Personen anhand ihrer Gesichter wiederzuerkennen. Das Wort leitet sich von dem altgriechischen Begriff für Gesicht „Prosopon“ ab. Betroffene haben Probleme, einzuordnen, ob sich hinter einem bestimmten Gesicht ein Freund, Angehöriger oder Fremder verbirgt. Sie können sich nicht an Gesichter erinnern und diese folglich nicht richtig zuordnen. Einige Betroffene können sich Gesichter zudem nicht vor dem inneren Auge vorstellen (Mental Imagering).

Anders als vielleicht zunächst gedacht, sehen sie aber trotzdem die „Gesichter als Gesichter“, können Mimik und Ausdruck deuten, erklärt Martina Grüter im Gespräch mit der Ärzte Zeitung. Der häufig synonym verwendete Begriff „Gesichtsblindheit“ sei daher irreführend und falsch.

Angeborene versus erworbene Prosopagnosie

Grüter beschäftigt sich seit der Jahrtausendwende mit der Prosopagnosie. Damals wurde das Phänomen meist in Folge von Unfällen, Insulten in der Fusiform Face Area des Occipitallappens oder als Symptom einer Erkrankung, wie Demenz, beobachtet.

Die Kollegin interessierte sich jedoch vor allem für die weitaus unbekanntere, angeborene Form der Prosopagnosie und veröffentlichte 2006 erste Studienergebnisse zur Prävalenz: Rund 2,5 Prozent der Menschen in Deutschland könnten von der kongenitalen Gesichtserkennungsstörung betroffen sein.

Bei den meisten haben auch Eltern oder nahe Verwandte typische Symptome der Prosopagnosie. Vieles weist auf eine autosomal dominante Vererbung hin. „Ich dachte erst, ich mache etwas verkehrt“, erinnert sich Martina Grüter. In den folgenden Jahren hätten allerdings andere Arbeitsgruppen die unerwartet hohe Prävalenz bestätigt.

Gesichtserkennungsstörung häufig unentdeckt

Dass das Phänomen der angeborenen Form so lange unentdeckt blieb, liegt wohl auch daran, dass die meisten Betroffenen im Alltag nicht auffallen. Grüter beschreibt spezifische Kompensationsmechanismen:

  • Merken: Personen mit Prosopagnosie merken sich andere Merkmale ihres Gegenübers als das Gesicht, zum Beispiel die Art zu gehen, die Stimme, der Kleidungsstil, aber auch einzelne Teile des Gesichtes: eine schiefe Nase, eng stehende Augenbrauen, lange Wimpern. Das ist besonders dann wichtig, wenn Betroffene wissen, dass sie mit den neuen Gesichtern und Personen künftig häufiger Kontakt haben werden.
  • Vermeiden: Sie schauen zum Beispiel auf ihr Handy, wenn sie auf der Straße jemanden begegnen, bei dem sie sich unsicher sind, ob sie ihn kennen. Im Internet schildern einige, dass sie Menschenmengen und öffentliche Plätze komplett meiden.
  • Entschuldigen: Manche Betroffene legen sich Entschuldigungen bereit für den Fall, dass jemand ungehalten reagiert, weil sie ihn nicht gegrüßt haben – „Ich habe meine Brille zu Hause vergessen!“

Selbst die meisten Kinder mit Prosopagnosie fallen nicht auf, betont Martina Grüter. Wenn sie doch verhaltensauffällig würden, dann meist bereits im Kindergarten: Sie haben Schwierigkeiten, ihre Spielkameraden wieder zu finden, wenn diese ihre Kleidung wechseln, sie vermeiden große Gruppen, schauen anderen nur aus der Distanz zu und gehen nicht von allein auf sie zu. Zudem halten sie beim Sprechen keinen Blickkontakt.

Fehldiagnose Autismus

Kein Wunder, dass eine häufige Fehldiagnose bei diesen Kindern Autismus ist. Wie oft diese falsche Diagnose gestellt wird, weiß Martina Grüter nicht, aber sie weiß, wie sich die Prosopagnosie von autistischen Störungen abgrenzen lässt: Im Gegensatz zu autistischen Kindern zeigen Kinder mit Prosopagnosie Empathie und können Stimmungen einschätzen, reagieren freundlich und offen, wenn man sie anspricht, verstehen Wort- und Rollenspiele und reagieren nicht überdurchschnittlich negativ auf eine veränderte Routine.

Sollten also alle Kinder mit Verdacht auf Autismus auch auf Zeichen einer Prosopagnosie untersucht werden? „Das wäre toll“, findet Martina Grüter, allerdings müsse es dazu erst einmal geeignete Tests, Anlaufstellen und genügend Forschung geben. Ärztinnen und Ärzte hätten keine Zeit, sich zwei bis drei Stunden mit den Kindern zu unterhalten, um eine Gesichtserkennungsstörung zu diagnostizieren. Auch die sozialpädagogischen Zentren, zu denen auffällige Kinder meist geschickt werden, hätten nur ein beschränktes Diagnose-Repertoire – Prosopagnosie sei nicht Teil davon.

Website informiert

Weitere Infos finden Fachleute und Personen mit Prosopagnosie auf Martina Grüters Website prosopagnosie.de sowie bei den Forschungszentren der Universität Bamberg und TU Dresden. Spezielle Selbsthilfegruppen für Personen mit Prosopagnosie gibt es bisher nicht.

Prosopagnosie selten „hoch dramatisch“

Letztlich sei es ratsam, dass Kolleginnen und Kollegen das Phänomen der Prosopagnosie kennen und bei Bedarf darüber informieren können, meint Martina Grüter, viel mehr könne man aber nicht erwarten. Die meisten Betroffenen kämen ja auch gut mit der Störung zurecht und in den seltensten Fällen sei sie „hoch dramatisch“. Die allermeisten bräuchten auch keine Therapie. Man dürfe nicht vergessen: „Prosopagnosie ist keine Krankheit, es ist eine Teilleistungsstörung.“

Dennoch kann es wichtig sein, dass die Diagnose gestellt wird. Viele sind froh, wenn ihr Problem einen Namen bekommt. Auch Angehörige, Freunde oder Lehrer können sich dann womöglich besser auf betroffene Kinder einstellen und sie besser unterstützen: zum Beispiel, indem sie Namens- und Kennenlernspiele initiieren, bei denen viel gesprochen und explizit auf besonders auffällige äußere Merkmale der anderen Kinder hingewiesen wird.

Auch kann es sinnvoll sein, wenn Eltern und Kind einen Notfallcode vereinbaren, rät Martina Grüter. Spricht das Kind das Codeword aus, wissen die Eltern, dass es andere Personen gerade nicht erkennen kann. Sie können einschreiten und zum Beispiel explizit die Namen dieser Personen wiederholen.

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