Alpha-Gal-Syndrom: Allergisch auf Fleisch

Für Allergologen ist das Alpha-Gal-Syndrom, auch als Fleischallergie bezeichnet, wohl eine der spannendsten Entdeckungen der letzten 15 Jahre. Denn es wird ausgelöst durch einen Antikörper namens spezifisches Immunglobulin E (sIgE). Dieses richtet sich gegen das Zuckermolekül Galaktose-alpha-1,3-Galaktose, kurz Alpha-Gal. Das ist interessant, weil das Immunsystem bei Allergien gegen beispielsweise Hausstaubmilbenkot oder Gräserpollen auf Eiweißmoleküle überreagiert.
Mit einem Pricktest lässt sich das Alpha-Gal-Syndrom nicht nachweisen. Es ist ein Bluttest erforderlich. Die Diagnose ergibt sich dann aus der Kombination eines allergischen Ereignisses und einer nachgewiesenen Typ-I-Sensibilisierung auf Alpha-Gal.
Alpha-Gal
Im menschlichen Körper gibt es von Natur aus kein Alpha-Gal. Das Disaccharid kommt aber im Tierreich häufig vor. Es ist unter anderem enthalten in rotem Fleisch (z. B. Rind, Schwein, Lamm) und in Milch und Milchprodukten. Auch Süßigkeiten mit Gelatine, einige Arzneimittel sowie Medizinprodukte, die Säugetiergewebe enthalten (z. B. Herzklappen), sind potenziell gefährliche Quellen für Fleischallergiker. Nach aktuellem Verständnis des Alpha-Gal-Syndroms sind die Lebensmittel allerdings nicht primär dafür verantwortlich, dass es zu allergischen Symptomen kommt.
Zeckenstich als Auslöser
Bereits 2011 berichteten Wissenschaftler im Journal of Allergy and Clinical Immunology über die Zecke als Auslöser für das Alpha-Gal-Syndrom. Nimmt sie während ihres Entwicklungszyklus über das Blut von beispielsweise Nagetieren oder Rehen Alpha-Gal-haltige Bestandteile auf, kann sie diese über den Speichel auf den Menschen übertragen. Der Mensch bildet daraufhin sIgE-Antikörper gegen Alpha-Gal, wird also sensibilisiert. Möglich ist auch, dass bereits sensibilisierte Menschen (ohne Symptome) durch einen Zeckenstich allergische Symptome entwickeln.. Das Alpha-Gal-Syndrom ist somit die erste bekannte Allergie, die als „zeckenübertragen“ bezeichnet werden kann.
Teils heftige Reaktionen
Beim Alpha-Gal-Syndrom treten die von anderen Allergien bekannten Symptome auf: Urtikaria, Schwellungen der Lippen und Augen (evt. auch der Zunge), Juckreiz (u. U. am ganzen Körper), gerötete Haut, Quaddeln. Im Verlauf kann es zum anaphylaktischen Schock mit Atemnot, Kreislaufzusammenbruch und Bewusstlosigkeit kommen. Manche Fleischallergiker reagieren auch mit Magen-Darm-Problemen. Im Unterschied zu herkömmlichen Lebensmittelallergien, deren Symptome meist sofort auftreten, zeigen sich die Beschwerden jedoch zeitverzögert – in der Regel nach etwa drei bis sechs Stunden beziehungsweise nach einer halben bis ganzen Stunde nach dem Verzehr von Innereien (z. B. Schweinenieren, Leber). Letztere enthalten Alpha-Gal in höherer Konzentration als beispielsweise Muskelfleisch. Das Risiko für einen anaphylaktischen Schock ist größer.
Die Gründe für die Zeitverzögerung sind derzeit noch nicht verstanden. Experten vermuten, dass die Verdauung eine Rolle spielt. Und auch sonst gibt es noch viele offene Fragen. So zeigen Beobachtungen zum Beispiel, dass fettes Fleisch leichter eine allergische Reaktion auszulösen vermag als mageres. Möglicherweise spielen auch Kofaktoren, die die Darmpermeabilität modulieren, eine Rolle. Das können zum Beispiel sein körperliche Anstrengung, die Einnahme von nicht steroidalen Antirheumatika und Alkoholkonsum. Fieberhafte Infekte oder hormonelle Einflüsse können die Ausprägung allergischer Reaktionen ebenfalls verändern. So kann es sein, dass jemand Alpha-Gal-haltige Lebensmittel das eine Mal problemlos verträgt, das andere Mal aber die Kofaktoren zum Tragen kommen und er allergisch reagiert. Dieses Phänomen ist in der Fachwelt als Summationsanaphylaxie bekannt.
Karenz ja, aber überprüfen
Je nach Ausprägung der Symptome sollten Betroffene auf Innereien sowie auf rotes Fleisch komplett verzichten. Fisch und Geflügelfleisch können weiter auf dem Speiseplan stehen, da sie kein Alpha-Gal enthalten. Die Zubereitungsform oder auch der Grad der Erhitzung von Fleisch scheint nach derzeitigem Wissensstand keinen Einfluss zu haben.
Bei mildem Alpha-Gal-Syndrom werden geringe Allergenmengen, wie sie beispielsweise in Kuhmilch und daraus hergestellten Produkten wie Joghurt, Sahne, Butter oder Käse enthalten sind, in der Regel vertragen, heißt es in einer von der Deutschen Forschungsgemeinschaft unterstützten Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2022. Auch Arzneimittel in Hartgelatinekapsel können ihr zufolge von Patienten mit Alpha-Gal-Syndrom weiter als Dauermedikation eingenommen werden. Die Wissenschaftler weisen darüber hinaus darauf hin, dass Nahrungsergänzungsmittel auf Grundlage aufgereinigter tierischer Enzyme (z. B. Pepsin aus Schweinedarm als Digestivum) oder große Mengen von gelatinehaltigen Süßigkeiten Bauchschmerzen und Durchfall auslösen können.
Da sich die Alpha-Gal-sIgE-Titer im Blut verändern können, empfehlen Experten alle drei bis sechs Monate eine Kontrolle beim Arzt. Möglicherweise sind die Titer so niedrig, dass Betroffene wieder rotes Fleisch verzehren können oder zumindest eine gewisse Menge davon.
Wichtig-- Wird Gelatine (meist aus Schweine- oder Rinderknochen) nicht vertragen, sollte auf gelatinefreie Produkte zurückgegriffen werden. Die „vegan“-Kennzeichnung ist hier hilfreich, da hier überhaupt keine Bestandteile tierischen Ursprungs enthalten sein dürfen.
Medikamentenallergie
Neben Medizinprodukten, die Säugetiergewebe enthalten, gibt es auch Medikamente mit dem Zuckermolekül Alpha-Gal. Bei bestehender Alpha-Gal-sIgE-Sensibilisierung können auch diese eine allergische Reaktion auslösen. Hierzu zählen zum Beispiel der humane IgG1-Antikörper Cetuximab zur Therapie des metastasierten Kolonkarzinoms, Schlangengegengifte und Gelatine in Volumenexpandern oder Impfstoffen.