Pille danach: Neun Jahre OTC

Perfektes Verhütungsverhalten ist eine Fiktion, genauso wie ein perfektes Gesundheitsbewusstsein. Deshalb gibt es keinerlei Grund, orale Notfallkontrazeptiva und ihre Verwenderinnen mit einem Stigma zu belasten.

von Dr. Ute Koch -- Das Interview führte Julia Pflegel
31.03.2024

04pta_F_227481517
© Foto: Dmitriy Kapitonenko / stock.adobe.com (Symbolbild mit Fotomodellen)
Anzeige

Bereits seit neun Jahren ist die Pille danach, auch Notfallpille genannt, rezeptfrei am Markt. Trotzdem ist ihre Abgabe in vielen Apotheken längst kein selbstverständlicher Vorgang. Motive für überhöhte Vorsicht sind unberechtigte moralische Bedenken und/oder die unbegründete Ansicht, die Pille danach sei mit immens hohen Risiken behaftet und deshalb kein reguläres OTC-Arzneimittel. So werden nicht selten Kundinnen mit strafenden Blicken und Dokumentationsbögen eingeschüchtert oder der Verkauf an einen Mann wird kategorisch abgelehnt. Verantwortungslos ist es, wenn Minderjährigen die Pille danach ohne Zustimmung eines Erziehungsberechtigten verweigert oder sie mit Verweis auf eine gynäkologische Praxis abgewiesen werden.

Aktueller Podcast

Teenager-Schwangerschaften gelten generell als Risikoschwangerschaften, begründet im hohen Risiko für eine Frühgeburt, einen Kaiserschnitt und/oder den Aufenthalt auf einer Intensivstation. Zudem sind Jugendschwangerschaften fast immer mit einem Ausbildungsabbruch assoziiert. Die (Spät)Folgen der unzureichenden Qualifikation sind ein schlecht bezahlter Job und/oder die Abhängigkeit von Sozialleistungen. Diese wiederum bereiten Mutter und Kind schlechte Zukunftsaussichten, zumal schwangere Teenager überwiegend aus sozial schwachen Familien kommen. Und nicht zuletzt: Seit 2021 nimmt die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche zu, vor allem bei Frauen, die (deutlich) über 18 Jahre alt sind.

09pta_XL-0024_41120_Hoffotografen


© Foto: Die Hoffotografen GmbH

Dr. Ute Koch ist Apothekerin, Fachjournalistin und Fortbildungsreferentin. Die Interviewfragen sind von ihren Erlebnissen in ihren Seminaren zur Pille danach inspiriert.

Interview mit Dr. Ute Koch

Wo sehen Sie die größte Bedeutung des rezeptfreien Zugangs der Pille danach?

UK: Die Pille danach kann großes Leid verhindern, eine ungewollte Schwangerschaft genauso wie einen Schwangerschaftsabbruch. Deshalb ist die unbürokratische, rezeptfreie Abgabe der Pille danach eine gesellschaftspolitische Aufgabe, der sich alle PTA und Apotheker bewusst sein sollten. Schließlich ist die Pille danach keine Abtreibungspille. Sondern eine Notfallverhütung, deren Wirkmechanismus den Eintritt einer Schwangerschaft unterbinden, aber eine solche nicht abbrechen kann.

Zeitstrahl OTC Pille danach


© Foto: Grafik: DAS PTA MAGAZIN / Quelle: Statista

Frankreich war das erste europäische Land, in dem die Pille danach rezeptfrei wurde. In Deutschland hat es von 1999 an 15 Jahre gedauert, bis der Gesetzgeber 2015 nachgezogen hat.

Woran liegt es, dass sich noch immer viele PTA und Apotheker bei der Abgabe der Pille danach unsicher fühlen?

UK: Auch nach neun Jahren stehen an erster Stelle die Unkenntnis der betreffenden Gebrauchs- und Fachinformationen sowie Fehlinterpretationen der Handlungsempfehlungen der Bundesapothekerkammer (BAK). Alle BAK-Handlungsempfehlungen und Leitlinien enthalten – wie es der Name schon sagt – Empfehlungen, und diese sind keine gesetzlichen Vorschriften. Dies untermauert die ABDA-Website mit dem Hinweis: „Die Leitlinien der Bundesapothekerkammer zur Qualitätssicherung sind als Empfehlungen zu verstehen. Sie entbinden nicht von der heilberuflichen Verantwortung des Einzelnen, das heißt, sie haben weder haftungsbegründende noch haftungsbefreiende Wirkung.“

Zudem steht gleich zu Beginn der BAK-Handlungsempfehlungen zur rezeptfreien Abgabe von oralen Notfallkontrazeptiva der Satz „Es wird ausdrücklich auf die jeweils gültigen Produktinformationen (Fach- und Gebrauchsinformationen) der nicht verschreibungspflichtigen Notfallkontrazeptiva (NFK) hingewiesen“. Die Inhalte der Fach- und Gebrauchsinformationen sind es, die für den Apothekenalltag verbindlich sind. Das ist bei der Pille danach nicht anders als bei anderen OTC-Arzneimitteln. Dennoch enthalten die BAK-Handlungsempfehlungen wertvolle Hinweise für den Apothekenalltag.

Ein kontrovers diskutiertes Thema: Dürfen PTA die Pille danach abgeben?

UK: Wie schon gesagt ist die Pille danach ein OTC-Arzneimittel wie jedes andere auch und darf daher von PTA abgegeben werden. Allerdings gibt es hier die Einschränkung, dass Apothekeninhaber darüber zu entscheiden haben, welche Aufgaben einzelne Mitarbeiter übernehmen dürfen und welche nicht. Unabhängig davon ist es für mich nicht nachvollziehbar, die Abgabe der Pille danach als rein apothekerliche Aufgabe einzustufen.

Was ist bei erhöhtem Körpergewicht zu beachten?

UK: Es gibt Hinweise darauf, dass bei erhöhtem BMI die Wirksamkeit gemindert sein kann. Die Betonung liegt auf „kann“, weil es bisher keine eindeutigen Beweise dafür gibt. Daher gelten für alle Frauen selbige Dosierungen und Regeln – unabhängig vom BMI. Entsprechende Informationen enthalten die jeweiligen Fach- und Gebrauchsinformationen – sowohl von Levonorgestrel als auch von Ulipristalacetat, ebenso die BAK-Handlungsempfehlungen.

Gibt es die Pflicht, jede Abgabe der Pille danach zu dokumentieren?

UK: Nein. Eine gesetzlich vorgeschriebene Pflicht zur Dokumentation hat es noch nie gegeben. Nicht einmal im Jahr 2015, als die Pille danach rezeptfrei geworden ist. Damals wie heute geben die BAK-Handlungsempfehlungen den Ratschlag (keine Pflicht), die Abgabe zu dokumentieren, wenn die Kundin noch minderjährig ist. Nur wozu? Aus Datenschutzgründen sind jegliche Angaben verboten, die Rückschlüsse auf die Käuferin (oder den Käufer) zulassen. Also ist die Dokumentation nutzlos. Zudem haben Apotheken derzeit wahrlich Wichtigeres zu tun: zum Beispiel die bezahlten pharmazeutischen Dienstleistungen zu etablieren – im Sinne des Patientenwohls und der Zukunft der Vor-Ort-Apotheke.

Darf die Pille danach an einen Mann abgegeben werden?

UK: Selbstverständlich, an den Partner, den Ehemann, einen Freund oder den Vater der betroffenen Frau. Die Abgabe an einen Mann ist in Deutschland nicht verboten, auch nicht an andere Dritte. Ein leider sehr häufiger und völlig absurder Einwand von Teilnehmerinnen meiner Vorträge ist, dass ein Mann die Pille danach der Frau gegen ihren Willen heimlich oder gewaltsam verabreichen könnte.

Dazu stelle ich drei Fragen: Warum werden jedem Mann kriminelle Absichten unterstellt? Warum soll es ausgerechnet bei der Pille danach falsch sein, dass sich ein Mann in puncto Verhütung mitverantwortlich fühlt? Warum soll die Abgabe an die betroffene Frau eine Garantie dafür sein, dass sie freiwillig in der Apotheke steht? Und so ganz nebenbei: Sollte ein Mann tatsächlich „böse“ Absichten haben, kann er in unseren Nachbarländern die Pille danach einfacher erwerben als in der heimischen Vor-Ort-Apotheke – zum Beispiel in Österreich über die Versandapotheke und in den Niederlanden im Drogeriemarkt.

Wie sollte das Beratungsgespräch ablaufen, wenn ein Mann die Pille danach erwerben möchte?

UK: Mit selbiger Sorgfalt wie alle Beratungsgespräche, in denen OTC-Arzneimittel für eine andere Person gewünscht werden: etwa das Erkältungsmittel für die kranke Nachbarin oder das Schmerzmittel für den Ehemann. Das sind Standardsituationen in jeder Apotheke, in denen niemand auf die Idee kommen würde, aus rein formalen Gründen die Abgabe des gewünschten Arzneimittels zu verweigern. Dürfte die Pille danach nur an die betroffene Frau abgegeben werden, würde diese Vorschrift in den einschlägigen Fach- und Gebrauchsinformationen verankert sein. Die BAK-Handlungsempfehlungen enthalten die Empfehlung, die Pille danach an die betreffende Frau abzugeben, was von vielen zu Unrecht als Pflicht interpretiert wird.

Und noch ein Tipp: Via Handy lassen sich heutzutage viele Fragen klären, wenn Apothekenkunden für eine andere Person ein Medikament kaufen. Auch das Markieren wichtiger Aspekte in der Gebrauchsinformation ist eine Option.

Welche Kontraindikationen gibt es für orale Notfallkontrazeptiva?

UK: Eine bekannte Überempfindlichkeit gegenüber dem Wirkstoff und den Hilfsstoffen. Mehr nicht. Wäre dies bei jedem OTC-Arzneimittel der Fall, hätten wir es sehr einfach in unserem Berufsalltag.

04pta_istockphoto-1438349029


© Foto: Nemanja Potkonjak / Getty Images / iStock (Symbolbild mit Fotomodellen)

Die Pille danach ist für alle Frauen im gebärfähigen Alter zugelassen. Die Fach- und Gebrauchsinformationen enthalten keine Altersgrenzen, weder nach unten noch nach oben.

Was ist bei der Abgabe an Minderjährige zu beachten?

UK: Die Pille danach ist für alle Frauen im gebärfähigen Alter zugelassen. Die Fach- und Gebrauchsinformationen enthalten keine Altersgrenzen, weder nach unten noch nach oben. Auch enthalten sie keinerlei andere Einschränkungen. So bedarf es für die Abgabe der Pille danach an Minderjährige keine ärztliche Rücksprache und keine gesetzlich vorgeschriebene Zustimmung eines Erziehungsberechtigten. Je jünger die betroffene Frau oder das Mädchen ist, umso wichtiger ist die unbürokratische und empathische Hilfe in der Apotheke.

Der Kundin (und/oder ihrem Partner) sollte vermittelt werden, dass der Weg in die Apotheke die richtige Entscheidung war und sie in ihrer Situation nicht alleingelassen wird. Völlig fehl am Platz sind persönliche Moralvorstellungen und Abneigung. Zu bedenken ist auch, dass der Kauf der Pille danach für viele der zumeist noch jungen Menschen der erste Kontakt mit einer Vor-Ort-Apotheke ist. Eine große Chance für die betreffende Apotheke, sich als Ort des Vertrauens zu präsentieren und Kundschaft in spe zu gewinnen.

Wie sieht es mit dem Kauf auf Vorrat aus?

UK: Arzneimittel im Notfall griffbereit in der Haus- oder Reiseapotheke zu haben, ist zweifelsfrei sinnvoll. Genauso verhält es sich mit der Pille danach. Ihr Kauf auf Vorrat ist nicht verboten, so wie der Kauf auf Vorrat bei anderen OTC-Arzneimitteln auch nicht verboten ist.

04pta_istockphoto-1314930580


© Foto: Liudmila Chernetska / Getty Images / iStock (Symbolbild mit Fotomodell)

Jede Pille danach sollte nach dem ungeschützten Geschlechtsverkehr oder einer Verhütungspanne so schnell wie möglich eingenommen werden. Idealerweise binnen zwölf bis maximal 24 Stunden.

Gab es in Ihren Vorträgen ein Ereignis, das Sie nie vergessen werden?

UK: Viele sogar. Gern gebe ich das Erlebnis eines Apothekers aus Baden-Württemberg weiter. An einem Wochenende standen eine junge Frau, ihr Freund und ihr Vater vor der Notdienstklappe. Mein Kollege hat sie allesamt umfangreich zur Pille danach beraten. Dafür bedankte sich der Vater sehr höflich und sagte, dass die Frage „Pille danach ja oder nein?“ am nächsten Morgen im Familienrat diskutiert und entschieden wird.

Ein solches Prozedere ist verantwortungslos seitens des Vaters, weil es wertvolle Zeit verstreichen lässt. Jede Pille danach sollte nach dem ungeschützten Geschlechtsverkehr oder einer Verhütungspanne so schnell wie möglich eingenommen werden. Idealerweise binnen zwölf bis maximal 24 Stunden. In diesem Zeitfenster ist die Wirksamkeit am höchsten – unabhängig vom darin enthaltenen Wirkstoff. Und bei dieser Gelegenheit mein Schlusswort: Ungewollte Teenagerschwangerschaften sind nicht nur für die noch sehr jungen Frauen eine kritische Situation, sondern auch für deren Partner, die zumeist gleichaltrig oder nicht viel älter sind.

Kommentar schreiben

Die Meinung und Diskussion unserer Nutzer ist ausdrücklich erwünscht. Bitte achten Sie im Sinne einer angenehmen Kommunikation auf unsere Netiquette. Vielen Dank!

Pflichtfeld *
Inhaltsverzeichnis